Einer der größten Irrtümer unserer Zeit lautet: Die Digitalisierung ist das bestimmende „Zukunftsthema“. Menschen gehen überall online, berufliche E-Mails rund um die Uhr, Smart Home, Smart Watch, Smart TV, künstliche Intelligenz statt menschlicher Arbeitskraft … wir sind mittendrin im digitalen Zeitalter. Die Landespolitik hat dieses Thema mittlerweile auch auf dem Schirm. Kürzlich präsentierten Politik, Kammern und weitere Beteiligte die digitale Agenda in Vorarlberg. Nicht jeder lobte das Ergebnis. Zu vage, sagten die einen, zu wirtschaftsfokussiert, tadelten die anderen. Zwei Experten haben die Agenda nun untersucht. Christopher Köhler und Alexander Ruser von der Zeppelin-Universität Friedrichshafen haben sich für die VN der digitalen Agenda gewidmet und sie mit anderen Agenden im Bodenseeraum und darüber hinaus verglichen. Sie machen zwei Schwerpunkte aus: Wirtschaft und Bildung.
Köhler ist Projektmitarbeiter der digitalen Agenda Bodensee und beschäftigt sich in seiner Dissertation mit den digitalen Agenden Deutschlands. Seine Forschung findet im Rahmen des Projekts „KMUDigital“ statt, das von der Internationalen Bodenseehochschule (IBH) gefördert wird. Er hat also schon viele Agenden gesehen. Sein Fazit: „Vorarlberg hat mit Bayern den Wirtschaftsfokus gemeinsam, allerdings ist er in Vorarlberg besonders ausgeprägt.“ Baden-Württemberg habe sich der Digitalisierung hingegen gesamtgesellschaftlich genähert. Ein Alleinstellungsmerkmal für Vorarlberg sei die vergleichsweise starke Betonung der Bildung. Das Thema Wirtschaft sei acht Mal erwähnt worden, Bildung fünf Mal. „Das sind mehr als die Hälfte aller
Handlungsfelder“, sagt Köhler. Insgesamt macht er 22Handlungsfelder aus.
Keine Mobilität
„Was in Vorarlberg gänzlich fehlt, sind konkrete Zuständigkeiten, Termine und Kosten.“ (Christopher Köhler, Uni Friedrichshafen)
Manche Themen finden keine Erwähnung. Mobilität und Nachhaltigkeit fehlen zum Beispiel völlig. „Digitalisierung ist aber ein breit gefächertes Thema. Schon innerhalb der Wirtschaft sind Unternehmen mit unterschiedlichen Problemen konfrontiert. Der Tourismus zum Beispiel hat massiv zu kämpfen“, betont Alexander Ruser, wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für politische Kommunikation. Allein schon der Druck der Onlineplattformen sei enorm. Eine digitale Agenda könne diese Probleme nicht lösen. „Sie ist ein Rahmen, ein Sprachrohr der Politik an die Gesellschaft“, sagt Köhler.
Dieses Sprachrohr hat Vorarlberg – spät – geschaffen. Die EU veröffentlichte bereits im Mai 2010 eine Strategie, die im August 2014 überarbeitet wurde. Sachsen gilt innerhalb Deutschlands als Vorbild. Aber es gibt auch Länder, die haben noch gar keine Agenda. Köhler sieht die Politik jedenfalls nicht am Gestaltungshebel. „Ich glaube, dass die Politik nicht die treibende Kraft ist. Viele Unternehmen kümmern sich schon seit Jahren um dieses Thema.“
Positiv sehen die Experten, dass sich die digitale Agenda in Vorarlberg wie ein gutes Buch lese. Ein roter Faden sei durchwegs erkennbar. „Dies unterschiedet die Vorarlberger Agenda vor allem von jener in Bayern, die eher wie eine Aneinanderreihung von wenig aufeinander abgestimmten Maßnahmen wirkt“, erläutert Köhler und fügt an: „Was in Vorarlberg gänzlich fehlt, sind konkrete Zuständigkeiten, Termine und Kosten.“ Anders als in Sachsen, wo der Strategie ein Maßnahmenkatalog folgt. Dies erwarten sich die Experten nun auch von Vorarlbergs Politik. „Die Vorarlberger Agenda ist ein Schritt in die richtige Richtung“, betont Köhler. In zwei Jahren müsse sie aber aktualisiert werden; damit auch aus Vorarlberg ein Smart Land wird.
Alexander Ruser (l.) und Christopher Köhler von der Zeppelin Universität Friedrichshafen haben die digitale Agenda Vorarlbergs analysiert. VN/MIP
Artikel von Michael Prock erschienen am 25.06.2018 unter Vorarlberger Nachrichten (online) unter https://www.vn.at/lokal/vorarlberg/2018/06/24/digitaler-fokus-auf-die-wirtschaft.vn (abgerufen am 26.06.2018)